Als Altstraßen bezeichnet man historische Wege, die in früherer Zeit bedeutende Orte über weitere Strecken miteinander verbanden. Es waren unbefestigte Naturwege, die sich eher an der Form des Geländes orientierten und nicht an der kürzesten Strecke zwischen zwei Punkten. Ausnahmen bilden hier die alten Römerstraßen, die gut befestigt waren und sich möglichst grade durch das Gelände zogen. Viele dieser Altstraßen sind schon in vorgeschichtlichen Epochen genutzt worden. Oft findet man auch noch ganze Gruppen von Hügelgräbern aus vorrömischer Zeit entlang dieser alten Wege. Ihre Bedeutung für Reisende und den Warenverkehr verloren die meisten Altstraßen erst mit dem Bau der gut befestigten Chausseen bzw. Landstraßen im 18. und 19. Jahrhundert.

Beispiel: Altstraßen entlang des Laubustales im Hintertaunus
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Bis weit in das Mittelalter hinein waren die meisten Gebiete Mitteleuropas dicht bewaldet. In den Tälern entlang von Bächen und Flüssen herrschten Auwälder und Bachauen vor, die meist sehr feucht und morastig waren. In den Mittelgebirgsregionen verliefen die Altstraßen daher häufig auf den Höhen entlang der Wasserscheiden. Dort war es trockener als in den Tälern. Von den Höhen führten diese Wege meist erst bei bekannten Furten, Fähren oder den wenigen vorhandenen Brücken hinab in die Täler und Niederungen um Flüsse und Bäche dort zu überqueren. An solchen Punkten trafen sich dann auch manchmal mehrere Straßen und Wege aus verschiedenen Richtungen. Daher entstanden dort auch öfter größere Siedlungen, die so zu mehr oder weniger wichtigen Handelsplätzen mit regionaler oder überregionaler Bedeutung wurden. Solche Orte hatten auch wichtige strategische Bedeutung in Kriegszeiten, da man nur dort mit größeren Truppen Flüsse überqueren konnte. Die Nutzung von Fähren und vor allem von Furten war natürlich immer abhängig von der aktuellen Wetterlage und dem jeweiligen Wasserstand. Veränderungen von Flussläufen führten auch häufig zur Verlagerungen von Furten und damit zu Änderungen im Verlauf der Wege.

Die Altstraßen darf man sich nicht als befestigte Wege mit einem genau festgelegten Verlauf vorstellen. Es sind eher Pfade, Schneisen oder Trassen, die mehr oder weniger parallel in dieselbe Richtung verlaufen. Grade die häufige Benutzung eines Pfades oder Weges führte je nach Untergrund und Bodenbeschaffenheit schnell dazu, dass er unbrauchbar wurde. Auf Untergrund mit Grasbewuchs verschlammten die Pfade recht schnell, wenn sie öfter begangen wurden und die Grasnabe ausgetreten und der Boden auch nur etwas vertieft und verdichtet war. Regenwasser blieb in Mulden stehen und an Strecken mit Gefälle bildeten sich schnell kleine „Abflussrinnen“ für Regenwasser, die den Boden ausspülten und unpassierbar machten. So suchte man sich einen neuen Pfad etwas weiter rechts oder links des bisherigen Weges. Auf festeren und steinigeren Böden oder an Stellen wo das Gelände keine alternative Wegführung zuließ, blieb der Wegverlauf länger konstant. Dort bildeten sich dann oftmals über viele Jahre und Jahrhunderte hinweg Hohlwege aus, die bei starken Unwettern zu reißenden Bächen werden konnten. Solche Unwetterschäden führten nicht selten dazu, dass ein solcher Weg nachhaltig zerstört und unpassierbar wurde. Dann war es notwendig, eine neue Trasse zu suchen. Diese führte dann manchmal in größerer Entfernung um die unpassierbar gewordene alte Wegstrecke herum oder nahm sogar einen völlig anderen Verlauf.
Dabei muss man sich vor Augen führen, dass die Ansprüche an die Qualität und die Passierbarkeit von Wegen für Reisende zu Fuß, für Reiter und für Wagen sehr unterschiedlich waren. In manchen Teilabschnitten konnten Wege verschiedener Beschaffenheit nebeneinander verlaufen, sich trennen und in einiger Entfernung wieder aufeinander treffen. Wo es für Wanderer etwa kein Problem darstellte einen steileren Hang hinab oder hinaufzusteigen, waren Reiter und Wagen dagegen manchmal gezwungen einen größeren Umweg zu machen, um flachere An- und Abstiege zu nutzen. Karren und Wagen sind zwar auch in Mitteleuropa schon in vorgeschichtlicher Zeit bekannt, spielen aber für den Warentransport im Fernhandel bis in das Hochmittelalter hinein nur ein sehr untergeordnete Rolle.
Der Ausbau und die Instandhaltung von Wegen und Straßen im größeren Umfang wurde auch erst seit dem Hochmittelalter vorangetrieben. Dies ist weitgehend auf die Entstehung und Entwicklung der Städte in dieser Zeit zurückzuführen, die an besseren Verkehrsverbindungen untereinander interessiert waren. Das bedeutet nicht, dass man sich der Bedeutung von Wegen und Straßen vorher nicht bewusst war. Einige wenige Straßen standen als sogenannte Reichsstraßen (via regia oder strata imperialis) sogar unter besonderem königlichen Schutz. Nach der Gesetzgebung Karls des Großen gehörte die Pflege und Instandhaltung sowie die Gewährleistung der Sicherheit für Reisende auf diesen Straßen zu den Aufgaben und Rechten des Königs. Als Gegenleistung konnte dafür Zoll erhoben werden. Der größte Teil der Altstraßen gehörte allerdings nicht in diese Kategorie.

Neben den natürlichen und umweltbedingten Ursachen für die Veränderungen und Verlagerungen von Altstraßen gab es auch immer Gründe, die in der Siedlungs- und in der Territorialgeschichte zu suchen sind. Manche Siedlungen verschwanden im Laufe der Zeit oder Orte verloren ihre Bedeutung, die sie einstmals zu wichtigen Zielen von Altstraßen gemacht hatten. So entstanden und verschwanden z. B. manche Pilgerstraßen im Mittelalter je nachdem, ob bestimmte Heilige und die mit ihnen verbundenen Pilger- und Wallfahrtsorte grade „in Mode“ waren oder nicht. Handelsorte verlagerten sich aufgrund veränderter Warenangebote und Warenströme oder wegen besserer Handelsbedingungen an anderen Stellen. Überhöhte Zollabgaben und Mautgebühren für bestimmte Wegstrecken sorgten dafür, dass man sich andere Wege suchte. Andererseits konnte ein Landesherr auch durch die gezielte Anlage und Pflege von Straßen und Brücken Reisende und Händler dazu bewegen, den Weg durch sein Territorium zu nehmen und entsprechende Abgaben zu leisten.
Sich verändernde Grenzen von Königreichen, Grafschaften, Herzog- und Fürstentümern sowie von Gemarkungen und Gemeinden führten auch häufig zu Änderungen im Verlauf von Wegen und Straßen. Manchmal bildeten Altstraßen als markante Linien auch Grenzen zwischen Territorien. Dann ist in einigen Fällen zu beobachten, dass sich parallele Wege auf beiden Seiten der Grenze entwickelten.

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Alte Heerstraße
Diese Altstraße verläuft im Hintertaunus zwischen Villmar und Wolfenhausen entlang der ehemaligen Grenze der Grafschaft Wied-Runkel zum Kurfürstentum Trier.
Foto: J. Ost

Durch diese ständigen Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte ist eine genaue Rekonstruktion der früheren Wegführungen meist kaum mehr möglich, auch wenn dies durch entsprechende Eintragungen in modernen Landkarten oder durch „Altstraßenwanderwege“ häufig suggeriert wird. Im heutigen Straßen- und Wegenetz sind die genauen Verläufe dieser Altstraßen kaum wirklich wiederzufinden. Zwar sind manche Kreis-, Landes- und Bundesstraßen noch nach früheren Altstraßen benannt oder es werden heutige Wald- und Feldwege aus nostalgisch-touristischen Gründen zu Altstraßen erklärt, allerdings geben sie bestenfalls eine grobe Verlaufsrichtung ihrer historischen Vorläufer wieder.
Selten weisen noch alte Meilen- oder Stundensteine, die früher die Entfernung oder die benötigte Zeit für Wanderer, Reiter oder Kutschen bis zu bestimmten Orten angaben, auf den Verlauf historischer Straßen hin. Diese Steine stammen allerdings meist aus dem 18. oder dem 19. Jahrhundert. Für viele Altstraßen ist das aber schon die „Endphase“ ihrer Nutzung als bedeutende regionale und überregionale Verkehrsverbindungen. An einigen Stellen lassen sich aber frühere Wegverläufe manchmal noch erkennen, erahnen oder aus archäologischen Bodendenkmalen erschließen.

Die Namen, die manche Altstraßen heute tragen, sind häufig erst von Historikern und Altstraßenforschern in jüngerer Zeit seit dem 19. Jahrhundert eingeführt worden. In früherer Zeit hatten diese alten Verkehrswege häufig keine durchgängigen Eigennamen. Sie begannen und endeten irgendwo und ihre Teilstücke wurden von der einheimischen Bevölkerung meist nach den nächstgelegenen Zielen oder größeren Orten benannt zu denen sie führten.
Das Verhältnis der ortsansässigen und meist ländlichen Bevölkerung zu den großen und überregionalen Straßen unterschied sich deutlich zu dem in unserer Zeit. Heute betrachten wir eine gute und schnelle Anbindung an das Verkehrsnetz selbst in kleinsten Dörfern als einen guten und wichtigen Standortvorteil, mit dem z. B. in Immobilienanzeigen geworben wird. In vielen ländlichen Regionen sah dies allerdings oft bis in die Neuzeit hinein ganz anders aus. Während größere Orte mit Märkten und entsprechendem Warenangebot von den Reisenden und ihrer Nachfrage durchaus profitierten konnten, galt dies für die kleinen und ländliche Siedlungen meist nicht. Dort herrschte häufig eine Mangelwirtschaft. Eine Überschussproduktion, die einen Handel z. B. mit Nahrungsmitteln ermöglicht hätte, gab es praktisch nicht. Überschüsse, die über den eigenen Bedarf hinaus gingen, reichten selbst in guten Jahren meist nur um die Abgaben an den Grundherrn leisten zu können. Dagegen wird man annehmen können, dass Reisende sich häufig widerrechtlich an den Feldfrüchten für sich oder ihre Pferde bedienten. War ein Weg an einer Stelle schlecht oder gar nicht mehr passierbar, hatten Reisende häufig keine andere Möglichkeit als sich einen Weg durch die Felder zu suchen. Feldwege zwischen den einzelnen Äckern, wie wir es heute kennen, gab es im Mittelalter meist nicht. Dies führte natürlich zu Konflikten mit den einheimischen Bauern. Die Gefahren, die für Dorfbewohner von bewaffneten Gruppen oder Heeren in Not- oder Kriegszeiten ausgingen, kann man sich auch lebhaft vorstellen. Denn diese Altstraßen waren auch immer bevorzugte Marschwege für Truppen.
All diesen Gefahren und Nachteilen stand ein eher geringes bis gar kein Interesse der wenig mobilen Landbevölkerung an den überregionalen Verkehrswegen gegenüber, die ihnen auch keinen Nutzen brachten. So bestand auch in der Nähe von Altstraßen häufig ein lokales Wegenetz, welches die kleineren Siedlungen und Dörfer miteinander verband, ohne an die größere Straße angeschlossen zu sein.

Heute hat sich unser Verhältnis zu Straßen und unsere Vorstellung von Mobilität komplett gewandelt. Wir benutzen gut ausgebaute Straßen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit. Viele Menschen legen heute mit dem Auto oder mit Bus und Bahn jeden Tag eine Wegstrecke zur Arbeit zurück, die in früherer Zeit mehreren Tagesmärschen entsprochen hätte. Aber manchmal tut es vielleicht ganz gut, sich dieser alten Straßen und Wege zu erinnern und sie, wo das noch möglich ist, in der Art und Weise zu nutzen, wie es in früherer Zeit meistens geschah, nämlich zu Fuß. Eine Altstraßenwanderung kann uns den Menschen aus früheren Epochen und ihren Vorstellungen von Zeit und Raum viel näher bringen als etwa eine Geschichtssendung im TV vom bequemen Fernsehsessel aus betrachtet.

 

 

Altstraßen